Tod einer Krankenschwester
Jacintha wurde Mitte der 60er-Jahre in Valencia, einem Quartier der Hafenstadt Mangalore, im Südwesten Indiens geboren.
Nach Abschluss ihrer Ausbildung zur Krankenschwester arbeitete sie einige Jahre in Mangalore, bevor sie Indien verliess und nach Oman zog. 1993 heiratete sie den Buchhalter Bendict aus der Ortschaft Shirva, das nicht unweit ihres eigenen Heimatorts liegt. Vor ungefähr 10 Jahren zog das Paar mit Sohn und Tochter nach England. Jacintha arbeitete zuerst in der südwestlichen Stadt Bristol, und fand vor etwas über 4 Jahren eine Stelle im King-Edward-VII-Spital in London. Wenn sie Dienst hatte, wohnte sie in einer Personalwohnung in London. Das Krankenhaus ist eines der kleinsten des Landes, gleichzeitig aber eines der renommiertesten, denn es wird von Mitgliedern der königlichen Familie benützt, zuletzt von der schwangeren Frau von Prinz William, Kate, die dort wegen akuter Schwangerschaftsübelkeit behandelt wurde.
In den frühen Morgenstunden des 5.Dezember, um etwa 0530 Uhr, klingelt im King Edward VII das Telefon. Jacintha hat Nachtdienst, und weil um diese Uhrzeit niemand an der Rezeption sitzt, beantwortet sie den Anruf. Eine weibliche Stimme gibt sich als die Britische Königin aus. Sie möchte sich nach dem Gesundheitszustand ihrer Enkelin erkundigen, sagt die Frau, während im Hintergrund jemand bellend die Corgis der Königin imitiert. Jacintha antwortet höflich und leitet den Anruf an eine andere Schwester weiter. Diese vermittelt der vermeintlichen Königin vertrauliche Einzelheiten zu Kates Befinden.
Stunden später spielt der australische Radiosender 2Day FM in Sydney triumphierend die Aufzeichnung des Telefongesprächs ab. Für die Moderatoren Mel und Michael, die das Gespräch mit dem Spital aufgezeichnet haben, ist es eine Sternstunde, ein Meilenstein in ihrer jungen Karriere. Nie hätten sie gedacht, dass sie das königliche Krankenhaus hereinlegen könnten, dazu noch — wie sie selbst sagten — mit kaum verstecktem australischem Akzent. Der kontroverse Sender, bekannt für seine Streiche, sonnt sich im Erfolg, und wirbt auch auf seiner Webseite für die Aufnahme. Das „Interview“ macht international Schlagzeilen.
48 Stunden nachdem sie den Anruf entgegengenommen hat, ist Jacintha tot. Niemand zweifelt daran, dass sie sich das Leben genommen hat, auch nicht daran, dass der Trickanruf von 2Day FM dabei zumindest eine Rolle gespielt hat. Wie muss sich Jacintha gefühlt haben, als ihr klar wurde, wie weltweit über sie gelacht wurde? Hat sie sich geschämt, für sich selbst, aber auch für das Spital, in dessen Namen sie den Anruf entgegennahm? Fühlte sie sich Kate und dem Spital gegenüber schuldig, dass vertrauliche Daten publik gemacht wurden? Kam sie sich blöd vor, dass sie auf den Trick hereingefallen war? Dabei hatte sie doch nur das Beste für alle gewollt, für Kate und für ihre Familie. Sie war sicher stolz, in diesem renommierten Krankenhaus zu arbeiten, stolz, an Kates Pflege beteiligt zu sein. Wie konnte man so etwas wieder gut machen? Konnte man das überhaupt wieder gut machen? Jacintha muss sich sehr gequält haben. Am Freitagmorgen, um die 0930 Uhr, wird sie in ihrer Personalwohnung aufgefunden. Jede Hilfe kommt zu spät.
In den kommenden Stunden oder Tagen beginnt die gerichtsmedizinische Untersuchung, die in England bei unnatürlichen Todesfällen obligatorisch ist. Die Schuldzuweisungen haben aber bereits begonnen. Am härtesten kritisiert werden die beiden Moderatoren von 2Day FM, aber auch deren Vorgesetzte, die das Ausstrahlen der Aufnahme zwar intern rechtlich abgesichert haben wollen, beim Londoner Spital aber offenbar keine Erlaubnis einholten, den Trickanruf zu senden. Endgültige Beurteilungen sind verfrüht. Die Untersuchung wird herauszufinden versuchen, wer auf allen Seiten in welcher Weise beteiligt war, und ob andere Gründe bei Jacinthas mutmasslichen Selbstmord eine Rolle gespielt haben.
Mich persönlich hat Jacinthas Tod sehr traurig gemacht und ein grundlegende Unbehagen an die Oberfläche geschwemmt: Ich mag Trickanrufe grundsätzlich nicht, ebensowenig Spiele mit versteckter Kamera. Natürlich habe auch ich in jüngeren Jahren darüber gelacht, wie Leute unter den absurdesten Umständen hereingelegt wurden. Aber je länger ich im Mediengeschäft bin — und das sind mittlerweile 31 Jahre — desto weniger legitim finde ich es, so leichtfertig mit der Gutgläubigkeit und Hilfsbereitschaft von Mitmenschen umzugehen, um auf möglichst billige Art Sendezeit zu füllen. Wer auf solche Tricks hereinfällt, ist anderen Menschen gegenüber oft nicht besonders zynisch eingestellt. Ich finde das eine eher erfrischende Eigenschaft in einer Zeit, in der manchen oft nur der absolute Zynismus bleibt, angesichts des weitverbreiteten Verlusts von Vertrauen in alle möglichen Autoritäten und Berufsgruppen.
Jacinthas Familie — Ehemann Benedict, der 16-jährige Sohn und die 14-jährige Tochter — versuchen seit letzter Woche das Unbegreifliche zu begreifen. Sie sind katholisch und gläubig, und Benedict möchte seine Frau nach Shirva zurückbringen, damit sie in der regelmässig besuchten Heimat ihre Ruhe findet.
Copyright 2012 Peter Miles
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